Mandarinen, Behinderung und Integration (21.Dezember)


„Mandarinen.“ antwortete er, der mir versprochen hatte, mir, wenn ich adventstäglich blogge, bei der Themensuche behilflich zu sein, auf meine Frage, worüber ich denn heute Abend schreiben solle. „Danke auch“ antwortete ich und phantasierte in Gedanken über mögliche Mandarinen involvierende Folter- und Meuchelmethoden. Ich bin da kreativ müssen Sie wissen, Gewaltphantasien kann ich. Aber dann schickte Herr G. mir den Link zu folgendem Video und ich wurde etwas abgelenkt:

(Hier der Link zur deutschen Version.)

Nach erstmaligem Sehen fand ich den Spot beinah vorbehaltlos gut. Gerade in der Arbeit mit den etwas älteren Jugendlichen mit Behinderung erlebte ich viel zu oft, dass die Heranwachsenden in einer realitätsfernen, rosa Plüschwelt leben, in der ihnen viel zu viel erleichtert, viel zu viel schöngeredet und viel zu viel verschwiegen und vergessen wird, wie klein die Betroffenen und ihre Chancen dereinst Verantwortung für sich übernehmen zu können damit gehalten werden. Dazu gehört eben auch, dass Jugendliche und später Erwachsene mit Behinderungen als das behandelt werden, was sie sind. Achtzehn-, Dreiundzwanzig-, Dreissigjährige, (Fast-)Erwachsene eben, denen man keinen Luftballon mehr mitgeben würde, denen man nicht bei jedem vermeintlichen Anzeichen von Desorientierung zu Hilfe hastet und bei denen man nicht milde lächelt, wenn sie sich in den Bus drängeln, wenn alle anderen noch gar nicht ausgestiegen sind. Das ist niemandem dienlich, weder der Gesellschaft, noch den Personen mit geistiger Behinderung, die damit klein gehalten werden.

Dann las ich die Kommentare unter dem vor fast einem Monat geposteten Video.

„Ich weiss langsam nicht mehr, wie man sich korrekt benehmen soll gegenüber behinderten Menschen. Ich halte auch anderen „normalen“ Menschen die Tür auf, wenn sie hinter mir laufen, denn die Tür vor ihrer Nase zuschlagen zu lassen, wenn man sie doch genau so gut aufhalten kann, ist, von mir aus gesehen, unhöflich.“

„Soll ich nun nicht mehr lächeln, wenn ich durch die Massen laufe“

Es ist ungemein schade, dass die Botschaft des Spots derart konkret verstanden wurde. Als würde gefordert das fortan höfliche Gesten bei Geringstverdacht einer Behinderung unterlassen werden müssten. Nein, darum kann es Pro Infirmis wohl kaum gehen. Ich bin absolut davon überzeugt, dass Personen mit Behinderungen anders behandelt werden, heute, so nahm ich bisher an, wohl weniger durch offensichtliche Diskriminierung, wie Beschimpfungen oder aktive Benachteiligung, als Übervorteilung im wörtlichen Sinne. Eben durch oben genannte übermotivierte Nachsichtigkeit, vorauseilender Hilfe und schlussendlich Infantilisierung. 

„(…) Dennoch zeigt es die Problematik von uns Mitmenschen, die es zwar nur gut meinen, aber für die betroffenen Menschen dennoch falsch rüberkommt. Es sind schliesslich genauso Menschen wie wir.“

„Und wie wäre es, wenn seine nähere Bezugspersonen ihm erklären würden, dass die Leute bloss freundlich lächeln und ich nicht auslachen? (…)“

„(…) Denn er zeigt nicht die wirklich krassen Diskriminierungen, sondern harmlose Gesten von Mitmenschen, welche es sehr gut, wohlwollend meinen.“

Nach diesen (und ähnlichen) Beiträgen scheint mir auch klar, weshalb die Botschaft so verstanden wurde. Wenn wir Schweizer uns noch am Punkt befinden, an dem wir davon ausgehen, dass der junge Mann im Video aus- und nicht angelacht wird, wenn wir uns an dem Punkt befinden, an dem wir tatsächlich wörtlich feststellen und festhalten müssen, dass Menschen mit Behinderung „genauso Menschen“ sind wie „wir“, ist vielleicht die übertriebe Nachsicht die adäquateste, uns mögliche, Reaktion auf Personen mit Behinderung. Vielleicht sind wir noch immer erst an dem Punkt der Annäherung, dem Punkt also, an dem man sich manchmal verstellt, manchmal freundlicher verhält als man eigentlich ist, der Punkt, an dem man noch Nachsicht übt, mit seinem Gegenüber, man hat es ja gerade erst kennengelernt. Vielleicht ist die Distanz noch zu gross, für wahres, empathisches Verhalten.

Vielleicht war Pro Infirmis zu früh, mit ihrem Video, vielleicht sind wir noch nicht so weit. Was würde das aussagen, über die Integration von Personen mit Behinderung?

6 Kommentare

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6 Antworten zu “Mandarinen, Behinderung und Integration (21.Dezember)

  1. Es hat mit Respekt zu tun.
    Re-spektare: Zurück-schauen.
    In die Augen schauen.
    Den Menschen sehen.

  2. Zwei Szenen fand ich auffällig: die Verkäuferin mit dem Ballon und den Kellner. Vielleicht noch den jungen Mann, der seinen Sitz anbietet – das ist allerdings gut gemeint und keine Herablassung.
    Die vielen lächelnden Menschen jedoch – wie reagierst du, wenn du durch die Stadt gehst und siehst auf einmal in eine Kamera? Du bist schlecht gelaunt, dann guckst du unwirsch, oder du bist gut gelaunt, dann lächelst du in die Kamera, winkst vielleicht gar und gehst weiter. Da entsteht etwas, was (glaube ich) Quantenphysiker auch kennen: dadurch, daß man ein Geschehen beobachtet, verändert man das Geschehen.
    Mich macht was ganz anderes nachdenklich: wie viele Menschen werden denken, wenn sie Gianni begegnen – nein, wenn Gianni über ihren Weg läuft, denn Begegnung ist was anderes -, „sowas [sic!] muß doch heute nicht mehr sein“? Ohne sich weiter darum zu sorgen, daß sie Gianni damit sein Lebensrecht absprechen, und vielen hunderttausend anderen Trägern des Down-Syndroms ebenfalls.
    Nein, „das muß nicht sein“, wenn man bereit ist, dafür den Preis eines Menschenlebens zu bezahlen. Und mit dem neuen pränatalen Bluttest kann man jetzt noch leichter Down-Kinder aufspüren und eliminieren, noch bevor sie geboren sind… ja, vielleicht gar, bevor die Umwelt mitbekommen hat, daß die Frau ein Kind erwartet.
    Anderssein ist kein Wertmerkmal, da hat pro infirmis völlig recht. Aber der Film kratzt nur an der Oberfläche.

    • Es spielt doch überhaupt keine Rolle, ob die Menschen in diesem Film aufgrund der Kamera lächeln, ich gehe sogar davon aus, dass sämtliche Szenen gestellt sind, eine Rolle spielt, dass Menschen mit Behinderung TATSÄCHLICH alltäglich entmündigt und infantilisiert werden. Ich habe das, ganz ohne Kamera, zigfach erlebt, wenn ich mich arbeitshalber mit Jugendlichen mit Behinderung in der Öffentlichkeit bewegte.
      Was Sie weiter ansprechen, nämlich die Fortschritte in der Pränataldiagnostik und selektive Techniken, ist klar ein Punkt, der diskutiert werden kann und sollte und ja, Pro Infirmis bezieht sich mit diesem Video auf nur einen Aspekt der ganzen Problematik und ja, er ist nicht so populär wie die Diskussion rund um die Pränataldiagnostik, aber das macht ihn nicht irrelevanter.

  3. gold

    Sonst scheint mir die Bezeichnung „Problem“ für (im Fall von Trisomie21) eines langen und glücklichen Leben fähigen Menschen doch mehr über ihre geistige Haltung auszusagen, als ihnen vielleicht lieb ist.

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