Monatsarchiv: November 2013

Ich führe – Ein Drama in fünf Akten


Ich habe es vor 12 Jahren schon angekündigt und seit gestern darf ich hochoffiziell ganz alleine Autofahren. Das war der letzte Schritt ins Erwachsensein, oder zumindest das temporäre Gefühl des Erwachsenseins. Nicht nur dieser letzte Test, nein, das ganze Unterfangen war eine Prüfung für mich oder ein Drama in fünf Akten, das ich hier für Sie, falls Sie auch noch unbescheint sind und sich gerne darauf vorbereiten würden, in Stichworten zusammengefasst habe:

 

Der erste Akt – Der Nothelferkurs

Protagonisten: Hochschwangere Frau G., Schwester des Herrn G., Jugendlicher 1, Jugendlicher 2, Jugendlicher 3, Jugendlicher 4, Jugendlicher 5, Jugendlicher 6, Jugendlicher 7 ein narzisstisch veranlagter Kursleiter und eine Beatmungspuppe namens Gertrud

Handlung: Viel Situationskomik, nur zwei die darüber lachen, einige langatmige Ausschweifungen, und alle beatmen Gertrud, nur Frau G. nicht.

Leseprobe: (…) „Und damit alles hygienisch bleibt, desinfizieren sie Gertruds Mund und Nase nach Beatmung mit diesen Tüchern.“ „Das sind Babypotücher!“ „Ja, damit desinfizieren Sie Gertruds Mund und Nase:“ „Das sind Babypofeuchttücher mit Mandelöl!“ „Genau, damit desinfizieren Sie Gertruds Mund und Nase.“ (…)

 

Der zweite Akt – Die theoretische Prüfung:

Protagonisten: Frau G., Jugendliche 1, Jugendliche 2, Jugendlicher 1, Jugendlicher 2, Jugendlicher 3, Jugendlicher 4, Jugendlicher 5, Jugendlicher 6, Jugendlicher 7, aufgeregter Mittzwanziger, Mittelalterlicher mit Mittelungsbedürfnis, Prüferin mit Feierabendbedürfnis

Handlung: 1/6 der Anwesenden scheidet aufgrund fehlender Papiere aus, Frau G. demonstriert dem aufgeregten Mittzwanziger einige Beruhigungsatmungsübungen, der beginnt zu hyperventilieren beginnt, alle reissen Nothelferkurswitze und die Prüferin mahnt energisch zu Ruhe, der mitteilsame Mittelealterliche bekundet Mühe beim iPadhandling und Frau G. besteht die Prüfung knapp.

Leseprobe: (…) Mittelalterlicher (MA): „Prüfungen regen mich fühürchterlich auf.“ Frau G.: „…“ MA: „Wirklich, ich bin so nervös.“ Frau G.: „…“ MA: „SO NERVÖS!“ Frau G.: „Das wird schon.“ MA: „Was soll ich nur tun?“ Frau G.: „Tief in den Bauch atmen.“ MA: „Schnaaufschnaaufschnaaufschnaauf.“ Frau G.: „Atmen Sie nicht so schnell, ganz ruhig und lang ausatmen!“ MA: „Doch, das hilft, ich merks schon! Schnaufschnaufschnaufschnauf.“ Frau G.: „NICHT SO SCHNELL!“ MA: „Schnaufschnaufschnaufhechelhechelumkipp.“ Jugendlicher 4: „ICH beatme den nicht! Erster, Bode gchrützt*!“ (…)

 

Der dritte Akt – Der Verkehrskundeunterricht

Protagonisten: Frau G., Kursleiter 1, Kursleiter 2, Hellraumprojektor, Jugendliche, Jugendlicher 1, Jugendlicher 2, Jugendlicher 3, Jugendlicher 4, Jugendlicher 5, Jugendlicher 6, Jugendlicher 7, Jugendlicher 8

Handlung: Viel Testosteron, viele künstliche Goldkettchen, viel ebenso künstlicher Akzent in Jugendsprache, versucht autoritärer Kursleiter (1), ein Kursleiter (2) mit Verbrüderungsansinnen, veraltete Lehrfilme und ein greiser Hellraumprojektor in heiterem, interaktivem Wechselspiel.

Leseprobe: (…) Kursleiter: „Sie wissen alle weshalb dieser Kurs wichtig ist, oder?“ Jugendlicher 3: „Ja, weil mit ohne kannst du nicht zur Prüfung.“ Kursleiter: „Ja, aber hauptsächlich verlangt man den Kurs, weil der Kurs euch helfen soll interne und externe Risiken besser einzuschätzen.“ Jugendlicher 3: „Ich weiss was, ich weiss was! Drogen! Und Selbstbewusstseinserweiternde Substanzien!“ (…)

 

Der vierte Akt – Die Fahrstunden

Protagonisten: Frau G., Fahrlehrer, Frau Gs Mutter, Verkehrsteilnehmer aller Gattungen

Handlung: Multiasking, Multitasking, Multifailing, Multibremsing, Multimotorabwürging, Multihuping und Multifluching, alles drin.

Leseprobe: (…)“Was mir bisher nie so richtig bewusst war, ist wie seltsam sich die ungeübten, unterforderten Beifahrer benehmen, die verkrampfte Haltung, die gellenden Schreie, das Krallen ins Sitzpolster und geflüsterte Stossgebete. Ehrlich, alle meine bisanhinen Beifahrer sind grundsätzlich liebe und geschätzte Menschen, aber ich hoffe sehr, dass sie diese derart irritierenden Verhaltensweisen, die doch schon vermehrt brenzlige Situationen provoziert haben, beizeiten ablegen oder dafür Zeitfenster jenseits meiner Fahrstunden finden.“(…)

 

Der fünfte Akt – Die praktische Prüfung

Protagonisten: Frau G., der Prüfer

Handlung: Frau G. bereitet sich minutiös auf die Konversationssituation im Prüfungsauto vor, geplantes Thema ist der Führerscheinerwerbungsgrund, die geplante Reise, Frau G. ist sehr aufgeregt, der Prüfer nicht, aber er findet Reisen doof, Frau G. und der Prüfer schweigen, Frau G. besteht und ist so erleichtert, dass sie, statt die zur Gratulation ausgestreckte Prüferhand zu schütteln, die Autoschlüssel darin parkiert.

Leseprobe: (…) Prüfer: „Sie haben frei?“ Frau G.: „Ja.“ (Denkt: „Sonst wäre ich ja wohl kaum hier. Ich muss jetzt aufs vorbereitete Thema kommen, wie komme ich jetzt zum Thema Reisen? Um Himmelswillen bin ich nervös!) Prüfer: „Wieso?“ Frau G.: „Weil ich am Mittwoch nie arbeite.“ (Denkt: „Sehr intelligent, gna. Reisen, das Thema Reisen! Und Himmelarsch bin ich nervös!) Prüfer: „Was arbeiten Sie denn an den anderen Tagen?“ Frau G.: „Ich bin Heilpädagogin. Und Sie?“ (Denkt: „Autsch. Gna. Autsch. Reisen! Nervös!“) (…)

Ende.

 

 

*       Sagt man hierzulande um die zwingende Gültigkeit des Gesagten zu unterstreichen, wer ebenfalls um die angestrebte Position kämpft kann jetzt höchstens noch sagen „Zweiter, Bode gchrützt!“ und der/die Unglückliche, der/die als Letzte/r Bode chrützt, vierliert, bzw. müsste in dem Falle beatmen. Ein Usus der ungefähr so viel Sinn ergibt wie: „Ich habe immer einmal mehr Recht als du.“

 

 

 

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Röklamenblock – Die Kochpost


Als Blogger/in kommt man unweigerlich in Kontakt mit Menschen, die auf mehr oder weniger angebrachte Weise ihre mehr oder weniger passende Produkte auf dem Blog plazieren möchten. Keines der Angebote hat mich bisher auch nur im entferntesten angesprochen, ja, oft fühlte ich mich durch die dreisten Forderungen eher beleidigt. Als dann vor zwei Wochen die Kochpost schrieb, wollte ich die Mail zwar nach dem ersten Blick auch gleich löschen, denn ich wurde gleich in der ersten Zeile ungefragt geduzt und mit Vornamen angesprochen, trotzdem klickte ich vorher noch kurz auf den angefügten Link und ward positiv überrascht, denn ich mag Essen, Pakete und nicht einkaufen und all dies bietet die Kochpost an und genau so kam es zu diesem Artikel heute

Das Angebot laut Webseite:

3-4 ausgewogene und gesunde Rezepte und die dazugehörigen Lebensmittel werden wöchentlich nach Hause geliefert. Die Nahrungsmittel sind überwiegend aus biologischem Anbau, Fleisch stammt zu 100% aus der Schweiz. Drei Rezepte mit Fleisch, für 3-4 Personen kosten 144.90 CHF, die vegetarische Variante 129.90 CHF.

Der Test (Vegetarische Box für 3-4 Personen)

Lieferung: Pünktlich, freundlich, der Lieferant hat sogar unseren Eingang gefunden und mit kinderschlaffreundlich dosiertem Krafteinsatz an die Tür geklopft.

Inhalt: Äpfel, Basilikum, Birnen, Blätterteig, Crème fraîche, Eier, Endiviensalat, Frischkäse, Granatapfel, Kaki, Kiwi, Knoblauch, Lauch, Lorbeerblatt, Mandelstifte, Mango, Parmesan, Pecorino, Pflaumen, Randen, Risottoreis, Thymian, Tomaten, Tomaten getrocknet, Ziegenfrischkäse, Zucchetti, Zwiebeln (rote, gelbe), besonders gefreut habe ich mich die Früchte, die als kleine Überraschung dazugelegt wurden.

kochpost-logo

Auslegeordnung

Zustand der Lebensmittel: Bis auf zwei rote Zwiebeln alles sehr frisch

Herkunft der Lebensmittel: Obwohl die meisten Lebensmittel aus der Schweiz stammen und die meisten auch biologisch sind, würde ich beim Einkauf in jedem Falle ein Schweizer Produkt einem ausländischen Vorziehen und beispielsweise keine Tomaten aus Spanien oder Ziegenfrischkäse aus Deutschland kaufen.

Rezepte: Die Rezepte, Zucchettiauflauf, Lauchtartes und Randenrisotto, waren relativ einfach und nachvollziehbar gestaltet und nachzukochen, obwohl wir unter der Woche in der Regel unsere Nahrungsmittel mit weniger Arbeitsschritten zubereiten. Aufgefallen ist mir insbesondere der hohe Eiergehalt. Acht Eier entsprechen ansonsten höchstens unserem Konsum in zwei Wochen („versteckte“ Eier nicht einberechnet), niemals in drei Rezepten. Die Portionen sind sehr grosszügig bemessen, was ein wirklicher Vorteil ist, wenn Reste am nächsten tag zum Mittagessen aufgewärmt werden können.

Lauchtarte    Randenrisotto    Zucchetiauflauf

Fazit: Als berufstätige Eltern und gerade in den Zeiten in denen jeder Abend mindestens ein Elternteil Sitzungstermine oder andere Verpflichtungen hat und das Einkaufen unter der Woche nur unter Zeitdruck oder mit den Kindern im Schlepptau möglich ist, kann ein Angebot wie die Kochpost wertvoll sein. Drei Rezepte entsprechen genau unserem Bedürfnis für unter der Woche (zweimal gibt es Brotzeit). Das schnöde Planen immergleicher Menues und der Grosseinkauf nach Zettel (der dann doch zuhause liegen bleibt) fallen deutlich aufwandsminimiert aus. In Anbetracht unserer Abende mit allseitiger Übermüdung würde ich mir vielleicht noch einfachere Rezepte (nach Arbeit und KiTa hat niemand Lust ein Stunde auf den Risotto zu warten),  gerne auch mehr Rohkost wünschen.

Wer jetzt gerne auch möchte, der melde sich und erhalte einen Gutscheincode von 20CHF.

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Am besten nichts Neues – Recycling


Weil hier heut Winters erster Schnee fiel, weil sich manche Dinge jährlich wiederholen und weil Recycling scheins gut ist:

Ich versteh dich nicht, es schneit so laut.

Ode an den Nächstbarn

Schönes neues Schneeschaufeljahr, werter Herr Nächstbar!

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Über die Korrelation von TVAbstinenz und erleichtertem Kinderschuhkauf


Kleiderkaufen ist nur per Bestellung ein Unterfangen, das nicht ebensogut für die Folter eingesetzt werden könnte. In meinem Falle besonders grausam: Hosen, denn ich habe 4/4 Beinfülle verteilt auf ¾ Beinlänge. Wo ich mich beim Einkauf in überhitzten Umkleidekabine von Hose zu Hose quetsche und schlussendlich nach dem sechsten Paar, körperlich und seelisch am Ende, aufgebe, weil nahtloses Hosenanprobieren ist Hochleistungssport, das kann ich allen, die Sie mit 4/4 Beinlänge durchs Leben wandelt, versichern. Oberbekleidung und auch sonst praktisch alles ausser Unterwäsche probiere ich gar nicht mehr an, denn diesen Kleidungsstücken sieht man ja wohl an, ob sie passen, jedenfalls gehe ich jeweils genau davon aus, bis ich daheim, beim Eintragen, über die Ärmel meines neuerworbenen Pullovers stolpere oder sonst aus allen Nähten platze.

NOCH SCHLIMMER ist es, wenn ich Schuhe kaufen sollte. Nicht nur, dass ich relativ hohe Ansprüche an Optik und Gewicht (ich mag keine leichten Schuhe) meines Schuhwerks habe, die Ausdehnungen meines Fusses sind auch noch äusserst unkonform (Kinderlänge, Männerbreite). Sie sehen: Ich leide.

NOCH SCHLIMMER ist es, mit Kindern Schuhe zu kaufen, denn dafür muss die Brut mitgenommen werden, Schuhwerk muss ganz genau passen, so sagten schon unsere Ahnen: „Beim Schuh darf nicht gespart werden, weder an Geld noch an Zeit Perfektion zu finden.“ Nun gut, das war frei erfunden, gute Schuhe sind finde ich wichtig. Einfach so. Jedenfalls müssen die Kinder beim Schuhkauf mitkommen. Für den Anstrengungsgrad spielt hierbei kaum eine Rolle, ob der Nachwuchs aus Unlust jedes Anprobieren verweigert, oder, zwar  probierlustig, nur Pinkglitzerbilliglatschen an seinen Fuss lässt. Beides resultiert in derselben Situation: Stark nervenreduzierte Erziehungsberechtigte, randlierender Nachwuchs, verwüstete Schuhregale und VerkäuferInnen in Schweiss- und Tränennässe. Womit wir zu dem Punkt kommen, auf den ich eigentlich hinaus wollte: In der ganzen Forschungen und Diskussionen rund um das TV-Konsumverhalten von Kleinkindern wird ein Aspekt, der massiv gegen den regelmässigen Konsum spricht, sträflich vernachlässigt: Der Schuhkauf. Man suche eines dieser Gigantoschuhgeschäfte mit Kinderecke samt Kinderfernseher, locke sein Kind in die entsprechende Ecke und die sekundenschnelle, wundersame Verwandlung von Trotzzwerg zur zwar offenmundigen, starrenden, herrlich stummen und vor allem willenlosen Marionette, die jeden Schuh widerstandslos anprobiert, mit einigen gezielten taktilen Impulsen, wenn nötig auch geführt, einige Probeschritte ungern vor, aber problemlos wieder zurück marschiert und ganz gewiss keine Anstalten macht nach Einhornsujets und Sohlen mit Stroboeffekten zu verlangen. Schuhkauf ohne Drama, Dank TV Abstinenz.

Sollten Sie sich nun fragen, wie man als Eltern nach dem Schuhkauf auch noch glimpflich und mit gebührend flächendeckendem Nervenkostüm aus den Schuhgeschäften findet,  empfehle ich für das Kaufintermezzo die Zeit kurz vor Ladenschluss zu wählen, oder vorangehend genügend Proviant, optimalerweise mit berauschender Wirkung, einzupacken und der Dinge zu harren, oder Sie nutzen die Wartezeit und bereiten sich auf Situation vor, in der Sie sich in Bälde befinden werden, wenn Sie als Besuch eine Wohnung mit Fernseher betreten und die Kinder lauthals nach Schuhproben schreien.

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Pfeife mit Rucksack


(Der folgende Text erschien als Blogpost im Blog der Schweizerischen Bundesbahnen.)

PfeifemitRucksack

Es ist Dienstag. So ein Dienstag, der sich anfühlt als wäre er ein Freitag, nur ohne die Aussicht auf ein baldiges Wochenende. «Ist hier noch frei?», fragt er und quetscht sich, den Rucksack mit mindestens 60 Litern Volumen noch immer am Rücken, zum Fensterplatz vis-à-vis von mir. «Ähm, ja, eigentlich schon…», erwidere ich. «Eigentlich schon? Wie meinst du das?», er pustet sich eine Strähne seines Haars derart energisch aus dem Gesicht, dass ich den Lufthauch spüre. Ich halte für einige Sekunden die Luft an und atme erst wieder ein, als ich davon ausgehen kann, dass die Aerobakterien in fremde Lufträume weitergezogen sind.

Der Rucksack.

«Eigentlich schon, ja, aber jetzt sitzt du schon und meine Antwort spielt keine Rolle mehr.», antworte ich und versuche mich im Ansatz eines versöhnlichen Lächelns. «Aber natürlich spielt das eine Rolle, ich könnte schon noch Platz wechseln…», er versucht sich zu erheben, wird aber durch den offensichtlich sehr gewichtigen Rucksack massiv behindert. «Schon in Ordnung, wirklich, bleib nur», beschwichtige ich und möchte nichts anderes, als mich in meiner wohlverdienten, gänzlich schüler- und kinderlosen Pendelstunde irgendeiner Belanglosigkeit – heute einem seichten Buch – zu widmen. «Danke. Ich hätte jetzt ungern Platz gewechselt. Und nicht dass du jetzt denkst, ich könnte gar nicht mehr aufstehen. Du müsstest mir beim Aufstehprozess nur mit einem kurzen, kräftigen Zug am vorzugsweise rechten Arm behilflich sein, dann würde das schon klappen. Das Problem ist der Rucksack. Der ist einfach zu schwer. Ich habe wirklich sehr viel Material bei mir.» «Mmhmm, okay», brummle ich und fülle die Zeilenzwischenräume mit so viel Ich-will-nicht-gestört-werden wie möglich.

Der Brustgürtel.

«Aber das Gewicht alleine wäre ja nicht mal so schlimm, nein, vorhin im Bus ist mir auch noch die Schnalle am Brustgürtel kaputt gegangen. Schau!» Meine Reflexkontrolle versagt: Ich blicke wider besseren Wissens kurz hoch. Er deutet theatralisch und mit weit ausholenden Zeigebewegungen auf den Brustgürtel seines Rucksacks und beginnt mit verstellter Stimme vorzutragen: «Welcome on board. Fasten your breastbelts please. Unfortunately you kannst ihn aber nie mehr öffnen. Das blöde Teil ist kaputt. Jetzt kann ich meinen Rucksack nicht mehr ausziehen, ohne den Brustgurt zu zerschneiden. Hast du ein Sackmesser?» Leicht konsterniert lege ich mein Buch auf den Zugtisch und beginne in meiner Tasche zu wühlen. «Ähm, nein, ich habe kein Sackmesser dabei», teile ich schulterzuckend mit und widme mich, im Glauben meine Schuldigkeit endgültig getan zu haben, wieder dem Buch.

Die Pfeife.

«Zum guten Glück, es wäre auch irgendwie unpraktisch, den Rucksack ohne Brustgurt zu tragen. Und dann ist da ja auch noch die Hilferuf-Pfeife dran. Wer weiss, wann ich die brauche!? Ob die auch kaputt ist?» Ich höre wie er Luft holt, lasse das Buch fallen und kann mir gerade noch rechtzeitig die Ohren zuhalten. Dem Pfiff nach zu urteilen, verfügt der Mann über die Lungenkapazität eines Nichtrauchers mit Arienerfahrung. «Sie funktioniert», stellt er zufrieden fest. Ich, unsere Mitpassagiere und mit grosser Wahrscheinlichkeit auch das Dorf, durch welches wir gerade fahren, empfinden eher Angst und Pein. Der Zug ist voll, ein Platzwechsel ausgeschlossen, mir bleibt nur Musik, auch wenn ich befürchte, dass die Dienste meiner Kopfhörer nach dem pfeifbedingt erlittenen Hörsturz meinen Ansprüchen nicht mehr genügen.

Das Deo.

Sobald die Musik dann doch erklingt, fühle ich erstmals auf dieser Fahrt aufkeimende Entspannung. Ich sitze, lausche, starre Löcher in die Luft und alles scheint sich wieder einzupendeln, als mein Abteilsgenosse sich samt Rucksack und Anstrengung in mein Sichtfeld begibt. Seine Gesichtsfarbe und Mimik lassen ahnen, dass er sich gerade die Seele aus dem Leib schreit, beim Versuch mich anzusprechen. Auch wenn ich ihn zuerst ignorieren wollte, obsiegt schlussendlich das Solidaritätsgefühl zu meinen Mitpendelnden. Unmöglich kann ich ihn so schreien lassen. «Ja?», frage ich indezent genervt und nehme den Kopfhörer aus dem rechten Ohr und verstehe, von angenehmer Stille überrascht, erst nach einigen Sekunden, dass mein irres Gegenüber mich gerade tonlos, rein mimisch anschreit. «Sorry», er bedient sich seiner Stimme wieder, «ich habe nur gerade bemerkt, dass es hier etwas unangenehm riecht. Erst dachte ich ja, das seien die Zugbremsen, aber dann musste ich feststellen, dass es wohl ich selber bin. Der schwere Rucksack, Stress mit dem Brustgurt, du verstehst schon, da kommt man eben ins Schwitzen. Aber ich habe ein Deo, da muss man sich gar keine Sorgen machen, nur ist das Deo eben im Rucksack und den kann ich nicht ablegen… Würdest du?» Unerwartet behände steht er auf und dreht mir den Rücken samt Rucksack zu.

Die Rettung.

An streckenmässig ungewohnter Stelle erklingt in dem Moment eine Zugdurchsage, von der ich nur «…ausserordentlicher Halt in Olten…» verstehe, weil der Berucksackte mir die Wegbeschreibung von der Rucksacköffnung zum Antitranspirant im unteren Bereich der Tasche zu vermitteln versucht. Aber ich habe alles gehört, was ich hören musste – und plötzlich erscheint mir der Oltener Bahnhof attraktiv genug für einen ungeplanten Zwischenhalt. Ich bin die Erste an der Tür. Ich mag Olten.

PS: Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Situationen sind selbstredend rein zufällig.

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