Karpen – Shkodra (Tag 62)


Dank unserem spontanen Zusammentreffen mit den beiden schweizer Jungs, verliessen wir morgens den Platz um eine spannende Adresse (nun, Quasi-Adresse) reicher. In einem relativ zentralen Viertel Shkodras sollen seit 10 Jahren zwei Frauen in einem Kleinstkloster leben und ihr Leben Opfern von häuslicher Gewalt, Kindern und Familien in kanunbegründeter Blutrache gewidmet haben. Ich, das weiss, wer hier seit den Artikeln „(nicht) glauben“ und „(nicht) glauben II.“ mitliest, bin keine Anhängerin irgendwelcher Religionen und erst recht nicht von Missionierungsversuchen, aber ich bin grosse Anhängerin von Einblicken ins Leben der Menschen, deren Städte wir durchfahren und so konnte ich diese Gelegenheit unmöglich verstreichen lassen. Laut den beiden Motorradlern ist das Finden der beiden Schwestern auch gänzlich unproblematisch und so verabschieden wir uns guten Mutes und fahren die Kilometer bis Shkodra relativ zügig und zwischenfallsfrei. Im Auto rufe ich mir die Szenen aus der Reportage über den Kanun in Erinnerung, in der die beiden Nonnen offenbar auch schon eine Rolle spielten. Je näher wir Shkodra kommen, desto öfters sehen wir Häuser mit hohen Mauern rund ums Anwesen, was eher untypisch für den Rest Albaniens ist. Die Mauern wurden aus Angst gebaut und wo eine Mauer steht, kann davon ausgegangen werden, dass die dahinter lebende Familie in Blutrache mit einer anderen Familie lebt, aber dazu später mehr. Wir fahren also nach Wegweiser und den Anweisungen Befragter auf der Strasse in das Quartier Dobraç, wo die beiden Nonnen walten. Nur finden wir das Kloster nicht und stehen plötzlich mitten in einer unbefestigten, schlaglochdurchzogenen Quartierstrasse, umgeben von einer Schar Kinder, die uns „Shaqiri!“ zurufen und sich ans Auto klammern. Schliesslich erbarmt sich ein junger Mann unserer, hört unser Anliegen an, steigt kurzerhand aufs Fahrrad und bedeutet uns, ihm zu folgen. Leicht schwitzend zirkle ich den Gefährten durch die engen Gassen, weiche Pfützen aus, die oft nur bewässerte Schlaglöcher sind und versuche dabei niemanden anzufahren. Der Fahrradfahrer ist eindeutig schneller als wir, hält aber schliesslich vor einem Gebäude, das wir, nach ausgiebigem Dank, anklingeln. Tatsächlich treten Nonnen auf die Strasse, allerdings sprechen sie Französisch und sind nicht die Nonnen, die wir suchen. Die beiden scheinen das allerdings nicht weiter schlimm zu finden, steigen in ihr Auto, bedeuten uns, ihnen zu folgen und liefern uns tatsächlich und in angenehmem Tempo bei Christina und Michaela ab. Das Kloster ist ein hübsches Haus mit einem gepflegten Garten, hinter eisernem Tor. Wir werden eingelassen und herzlich begrüsst. Unsere Kinder sind innert Sekunden ins Spiel vertieft, es hat Trettraktoren und junge Kätzchen. Vor der Haustür treffen wir auf Abraham. Er lebt seit seinem vierten Lebenstag bei den Nonnen und versucht gerade sein Fahrrad mit Schuhpolitur zu ölen. Schwester Christina erklärt ihm die Konsequenzen seines Tuns, nämlich ein schmutziger Sattel und wenig Wirkung, lässt ihn aber gewähren, nach dem Abraham sehr überzeugt von seinem Tun zu sein scheint. Wir werden zum Kaffee geladen, wo wir auf einheimische Klostermitarbeiterinnen und Antonio treffen. Antonio ist das zweite, der beiden Kinder die fest bei den Nonnen wohnen. Er hat mutmasslich bei der Geburt zuwenig Sauerstoff bekommen und zeigt eine massive motorische Behinderung mit Hypotonie und Spasmen, wahrscheinlich hat er Epilepsie und Asthma, aber die Spitäler hier haben nicht die Methoden, ein so kleines Kind, er ist drei Jahre alt, zu untersuchen. Noch hat er auch nicht die nötigen Papiere, dass dies in der Schweiz erledigt werden könnte und so behelfen sich Nonnen und Mitarbeiterinnen mit den Mitteln, die sie hier haben: Gute Grundversorgung, liebevoller Umgang und Körperkontakt. Die Schwestern kannten Antonios Familie schon länger und als man Antonio ins Kinderheim geben wollte, sahen sie für ihn keine grossen Überlebenschancen und nahmen ihn vor drei Wochen zu sich. Beim Tisch erzählen sie uns etwas von ihrer Arbeit. Das Kloster hat einen eigenen Kindergarten, der von um die 70 Kindern besucht wird, die pädagogischen Mitarbeiter werden jeden Montag geschult, vorallem werden neben Unterrichtsinhalten auch Lehrmethoden und der Umgang mit Kindern besprochen.
Alle Mitarbeiterinnen haben Geschichten voller Gewalt hinter sich oder befinden sich noch immer mitten drin. Viele der Frauen sind auf die ein oder andere Weise von Famlienfehden im Namen des Kanuns betroffen. Der Kanun ist altes, albanisches Gewohnheitsrecht, das vorallem in den Regionen um Shkodra noch verbreitet Grundlage des täglichen Zusammenlebens ist. Die Frau spielt dabei deutlich eine sekundäre, ja, minderwertige Rolle, der Mann ist, so habe ich es verstanden Träger der Familienehre und Ehrkränkungen dürfen, oder wohl viel eher müssen, gerächt werden, was bis zu Tötungen ausartet. In der Regel ist es allerdings mit einem Mord noch nicht vorbei, wenn Familie 1 ihre Ehre durch einen Mord an einem zwingend männlichen Mitglied der Familie 2 wiederhergestellt hat, ist nun Familie 2 wieder am Zuge und muss den Tod des Familienmitglieds rächen. Das geht so stetig weiter, bis die Familie, die nun daran wäre, das Blut zu rächen, sich zu Verhandlungen bereit erklärt. Die meisten betroffenen Familien leben allerdings nach wie vor in aktiver Blutrache. Das führt dazu, dass männlichen Familienmitglieder ein Leben in der Wohnung führen müssen, denn nur da sind sie, auch laut Kanun, geschützt und dürfen nicht getötet werden. Das hat desaströse Auswirkungen, denn die Jungen gehen nicht zur Schule weil sie getötet werden könnten und die Mädchen weil sie zuhause helfen müssen, wo die Familie gänzlich von weiblicher Hand versorgt werden muss, kann doch der Mann nicht arbeiten gehen und Haushalt ist ebenfalls Frauensache. Die Familien leben hinter hohen Mauern, die sie aus Angst vor Rache um Ihre Häuser bauen. Christina analysiert die Situation trotz Mitgefühl und Fürsorge für ihre weiblichen Schützlinge sehr differenziert, als sie mir schildert, wie die belastende Situation und die ungleiche Wertung der Geschlechter, sich in vermehrter häuslicher Gewalt zeigen. Oft sehen sich die schlagenden Männer als Opfer, sie sind schliesslich die, die um ihr Leben fürchten müssen, während Frauen keine Zielscheibe der Blutrache sind. Zur Zielscheibe werden sie, wenn die Männer Angst und Druck an ihnen auslassen. Ein System dessen Missstände sich gegenseitig begünstigen. Es ist nicht einfach, ein derart festgefahrenes System zu ändern. „500 ßJahre geben wir uns…“ meint Christina lächelnd. Es wird ein spannender, lehrreicher Nachmittag und wir beschliessen die schwesterliche Einladung, die Nacht hier zu verbringen, dankend anzunehmen und verbringen eine ruhige Nacht, ohne unsere heimlichen Besucher zu bemerken. Die beiden Kätzchen werden erst am nächsten Morgen, von den Kindern entdeckt, die in Rekordzeit angezogen und bereit sind, draussen mit den Kleinstmietzchen zu spielen. Bereits um 8 Uhr stehen Menschen am Tor und warten auf Hilfe. Es sind Eltern, mit krebskranken Kindern, die sonst keine Hilfe erhalten, Eltern, die plötzlich mit einem behinderten Kind dastehen, so kam Antonio ins Kloster, Menschen ebendie auf eine oder andere Weise Hilfe oder Zuspruch benötigen. Beim gemeinsamen Frühstück mit Christina, Michaela und einigen Mitarbeiterinnen schlürfe ich etwas abwesend meinen Kaffee, während Herr G. den Kindern Schnittchen streicht und vor allem KleinÄm betüdelt. Plötzlich setzt die Frau neben uns zu einer albanischen Rede an, der gestaute Wut auch ohne Sprachkenntnisse zu entnehmen ist. Schwester Christina übersetzt von Zorn, über albanische Männer, davon, dass Frauen hier alles machen müssen und nur Schläge ernten, sie übersetzt von mangelndem Interesse an den Kindern, von Anspruchshaltungen, davon dass ungefragt Freunde eingeladen werden, die die Frauen dann bewirten müssen. Schwester Christina übersetzt Frustration in Anbetracht dessen was möglich wäre. Die Tatsache, dass dieser Ausbruch hauptsächlich von einer Frau kam, stellt Christina klar, liege nicht daran, dass die anderen Anwesenden derartiges nicht erleben, im Gegenteil, diese hätten sich schlicht nicht gewagt, in diesem Rahmen davon zu erzählen. Ich versuche das Gehörte zu fassen. Ich wusste, dass Albanien noch einen beachtlichen Weg vor sich hat, aber hier scheint er noch etwas weiter.
Wir brauchen Verarbeitungszeit, insbesondere die Kinder, von denen Äm, als Obersensibelchen, intensiv über Antonios Geschichte, seine Behinderung und das Verlassenwerden von den Eltern nachdenkt. Bevor wir gehen, möchte ich ausprobieren, ob Antonio in unsere XXL-Tragehilfe passt, aber die fehlende Physiotherapie liess seine Unbeweglichkeit zu weit fortschreiten. Ich hoffe sehr, dass die Schweizer Behörden ihm eine Einreise und baldige Abklärungen ermöglichen.
Wir verabschieden uns bereichert und voller Bewunderung, denn, Religion hin oder her, Christina und Michaela leisten hier Grossartiges mit Nachhaltigkeit.

 

Falls Sie sich für das Projekt der Schwestern interessieren, finden Sie auf der folgenden Seite Informationen, lassen Sie sich nicht zu sehr von den religiösen Floskeln abschrecken, die Schwestern sind weit offener, als der erste Blick auf die Seite glauben machen könnte. http://www.schwester-christina.de/index.php/aktuelles-oben/278-ob-das-wasser-fliesst-wissen-wir-nicht

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4 Kommentare

Eingeordnet unter Begegnungen, Neulich, Reise 2014, Reisen mit Kindern

4 Antworten zu “Karpen – Shkodra (Tag 62)

  1. mammasusanna

    Danke für den Einblick. Albanien kann einem sehr beschäftigen. Müssen uns dann mal austauschen. Und diese Schwestern wären zu unterstützen.

  2. Pingback: Fazit einer Vierteljahresreise mit Kindern und Hund | Gminggmangg

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