Übers Ziel hinaus


„Mama findet blöd, wenn ich rosa Kleider trage!“ spricht die fünfjährige Y und schiebt die Turnschuhe, die ihr der Schuhverkäufer zeigt, weg. Ich schäme mich ein wenig, denn das ist nicht, was ich meiner Tochter vermitteln wollte. Einmal zu oft, habe ich ihre Beweggründe wohl kritisch hinterfragt, wenn sie sich Rosarotes aussuchte. „Willst du das, weil dir die Farbe gefällt, oder weil du denkst, dass es für Mädchen ist?“, pflegte ich zu fragen. „Mir gefällt es, weil es für Mädchen ist.“, antwortete sie jeweils. „Alles ist für Mädchen. Alles ist für Jungs. Du sollst tragen, was dir gefällt.“, erklärte ich wiederum, während ich hier ein Paar türkisene Halbschuhe, da ein Paar braune Stiefel in den Händen hielt. Mein Kind ist nicht blöd. Mein Kind bemerkt meine Vorlieben, es bemerkt meine Aversionen und es ist, mir hinterher, unfreiwillig übers Ziel hinausgeschossen.
Dabei kenne ich die Gefahr. Als es vor einigen Jahren darum ging, ob Herr G. und ich zu heiraten gedenken, war meine erste Reaktion ablehnendes Entsetzen. Ich stamme aus christlich freikirchlichen Kreisen, habe mich mit Kraftaufwand und Mühe, unter anderem von den dort geltenden Moralvorstellungen bezüglich des Zusammenlebens von Mann und Frau, distanziert und nichts lag mir ferner, als diese Ideen von Moral und Tugend durch mein Tun zu bestätigen. Ich wollte also unbedingt nicht heiraten. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich bemerkte, dass mir damit mein Tun in gleichem Masse von mir fremden Moralvorstellungen bestimmen lasse, wie wenn ich ihretwegen heiraten würde: Ich fällte eine Entscheidung aufgrund einer Ideologie, die nicht meine ist, anstatt zu tun, was MIR gut tut. Wenig später heirateten wir.
Ich scheine nicht die Einzige zu sein, die mit ihren Abgrenzungsabsichten übers Ziel hinaus schiesst. Da ist der Bekannte, der sich darüber mokiert, dass Herr G. die handwerklichen Arbeiten beim Busausbau übernommen hat, während ich den Anstrich bewältigte. Dass er auch Vorhänge genäht und dekorative Bordüren angebracht hat, vergass ich wohl zu erwähnen, das spielt aber eigentlich auch keine Rolle, weil er solche Dinge gerne macht, während ich eben lieber male oder mich administrative Reiseaspekte und die Routenplanung kümmere. Da ist die Kindergartenmutter, die mir stolz erzählt, ihr Kind halte das Wäschefalten für Männerarbeit und bei deren Aussage ich mich frage, weshalb das Geschlecht hier eine Rolle spielt. Die Umkehrung der Rollenverteilung kann per se nicht Ziel gleichberechtigender Anstrengungen sein, geht es doch um gleiche Möglichkeiten und Voraussetzungen.
Wahrscheinlich ist es menschlich, dass der Versuch der Abgrenzung in erstem Reflex im Versuch des gelebten Gegenteils resultiert, auch wenn uns allen mittlerweile klar sein dürfte, dass Gegenteile oft mehr gemeinsam haben, als man erwarten würde. Sie diktieren und definieren sich gegenseitig, können alleine nicht existieren. Wirkliche Abgrenzung und Unabhängigkeit kann so nur auf einem „Mittelweg“ stattfinden, der sich furchtlos mal hier, mal da auch mit Teilaspekten der Ideologien kreuzt, die man grundsätzlich ablehnt. Ich heiratete, trotz christlichen Moralvorstellungen. Ich backe, trotz traditionellen Rollenvorstellungen. Mein Kind trägt pink, trotz der Genderdingens.

Ich habe fertig.

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11 Kommentare

Eingeordnet unter Elternsein, Erziehung, Neulich

11 Antworten zu “Übers Ziel hinaus

  1. Du sprichst mir aus tiefster Seele. Ich hab das selber hinter mir in Bezug auf Rollenbild und Feminismus: Aufgewachsen in einem patriarchischen Familiensystem mit einer „betont feministischen“ Mutter, die meine Brüder aber trotzdem völlig anders erzog als mich und meine Schwestern (die Brüder hatten draussen auf dem Hof zu arbeiten, die Mädchen beim Kochen, Abwaschen und Putzen und ev. danach ebenfalls draussen) hatte ich als sehr junge Frau enorm die Nase voll davon, still zu sein, wenn „die Männer“ reden, Serviceangestellte zu spielen, wenn „die Männer“ mit Speis und Trank versorgt werden wollten, stundenlang irgendwelche Beeren zu entsaften oder Gartenarbeit zu tätigen und immer schön darauf achten, dass im Haushalt auch alles ordentlich aussah. In meiner Abschlussklasse im Gymi galt ich als „Vorzeige-Emanze“.
    Jahrelang dachte ich dann, als ich auszog und erwachsen wurde, dass ich gegen diese ganzen Rollenzwänge extrem sinnvoll protestiere, indem ich weder koche noch backe noch putze noch irgendwas mit Blumen und Pflanzen zu tun habe. Es dauerte sicher bis gegen Mitte Zwanzig, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich eigentlich gerne koche, gerne backe, Pflanzen mag und sogar gerne nähe und stricke. Ich nenne mich schon lange nicht mehr Feministin, ich will eigentlich einfach nur frei sein, frei sein, das zu tun, was ich mag, mich so zu verhalten, wie es mir entspricht, mich so zu kleiden, wie es mir gefällt, und all das, was ich nicht gut kann, nach Möglichkeit jemanden anderen für mich machen zu lassen, und wenn das bedeutet, dass mein Freund für mich den DVD-Player anschliesst.

  2. jpr

    .

    Gruenden Sie Ihr Koenigreich eigentlich recht bald? Ich habe den Eindruck, dass es ein ganz angenehmer Ort werden koennte.

  3. me.anna

    Die Suche nach der goldenen Mitte. Bin ebenfalls dabei.
    Kenne das. Trotzdem graut es micht, wenn Tochter in lila-pinker Jacke auf pinkem Fahrrad sitzt. Mit grünem Helm, immerhin. Und bald wieder braunen Stiefeln. Ich tröste mich halt mit der Hoffnung, dass sie es JETZT auslebt und sich das später mäßigt.
    Das mit den Gegenteilen ist interessant. Eine Bekannte wurde in der Kindheit -sie sagt- genötigt sich ausschließlich von „Körnerfutter“ zu ernähren. Heute ist sie Fast-Food-Junkie. Also: Nichts erzwingen.
    Und: Ommmhhhh.

  4. Also ich bin ämel gerne eine alte Emanze.
    So wie ich sage!
    Aber ich habe auch lange gebraucht um zu merken, dass es dabei nicht um bestimmte Handlungen oder Nicht-handlungen geht, sondern um die Definitionsmacht: Die Macht, SICH SELBER zu definieren.
    Und das ist irgendwie auch dann immer noch verflixt schwierig, wenn man es sich bewusst geworden ist.

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