(Der folgende Artikel erschien als Blogpost im Blog der Schweizerischen Bundesbahnen.)
Minuten vor der Zugausfahrt besorge ich mir neben Kaffee und der gehaltvollen Pendlerzeitung auch noch die Ausgabe einer Lokalzeitung, mein Arbeitsweg dauert nämlich länger als 20 Minuten. Auf dem Perron stehe ich genau richtig, ich weiss wie Hasen laufen und Züge halten. Der Wagen hält so, dass die Türe sich exakt neben meinem rechten Fuss öffnet und ich schiele nach bewundernden Blicken für mein Ort- und Timing.
Ich finde eine Platz in einem der Zweierabteile mit Einzelsitzen, ohne dass meine Ellenbogen zum Einsatz kommen müssten, völlig leer vor. Meinen Kaffee stelle ich auf den Tisch, die Lokalzeitung lege ich daneben, die Gratiszeitung behalte ich vorerst in der Tasche, mehr so als Joker, falls ich zu einem der langen Artikel in der Lokalzeitung auch noch die Kurzvariante mit reisserischem Titel lesen möchte. Während ich meine Jacke ausziehe und dabei versuche, keine der durch die Gänge strömenden Mitreisenden zu verletzen, werde ich nach dem Besetzungsgrad des gegenüberliegenden Sitzes gefragt. Mit einladender Geste bedeute ich der Dame Platz zu nehmen, hänge meine Jacke auf und setze mich ebenfalls.

Mit Zeitung und Kaffee im Zug.
«Brauchen sie die noch?»
Planungsfehler: Ich habe Zucker und Löffel in der Jackentasche vergessen und auch die Kopfhörer liegen noch sorgsam um den gesamten Tascheninhalt verknotet ausserhalb meiner direkten Reichweite. «Brauchen sie die noch?» Fragt meine Mitreisende und deutet auf die Lokalzeitung. »Ja, ich werde sie lesen, sobald ich den Kopfhörerkabel-Houdini gemacht und meinen Kaffee gesüsst habe», erwidere ich freundlich, während ich mich um das tascheninterne Chaos kümmere und hoffe, dass ich es schaffe, meine Kopfhörer zu befreien, bevor der Kaffee zu kalt ist. «Entschuldigen Sie, kann ich rasch etwas nachschauen, während sie die Zeitung noch nicht lesen?» Mein Gegenüber nimmt die schutzlos rumliegende Zeitung fast schon zur Hand, aber ich erkläre: «Ich bin gleich fertig und möchte dann gerne lesen, aber ich kann sie Ihnen gerne überlassen, sobald ich ausgelesen habe.» Kurz im Kaffee gerührt, Kopfhörer aufgesetzt, passende Musik gewählt, irgendwas Episches, passend zu Pendlerwerbung und Mörder-Drummer, versenke ich mich genussvoll in die Dramen der Welt, etwas Realität vor dem jobbedingten Heilpädagogenflausch.
Begehrtes Papier.
Gerade will ich vom Auslandteil zur Wirtschaft wechseln, ich lese gerne kreuz und quer, als meine Sitznachbarin winkend um meine Aufmerksamkeit bittet. Ich setzte die Kopfhörer ab und versuche fragend auszusehen. «Dürfte ich den Teil, den Sie jetzt gerade gelesen habe schon haben?» Sie fragt freundlich, das muss man ihr lassen, und blickt dabei so freudig erwartungsvoll wie mein Hund, wenn ich am Schrank mit dem Hundefutter vorbeilaufe. «Ich lese kreuz und quer, müssen Sie wissen. Das tue ich immer schon unchronologisch und ich würde das gerne auch heute tun.» Offensichtlich enttäuscht lehnt sie sich in ihren Sitz zurück, ein spontaner Tagtraum zeigt sie mir in Dreijährigenmanier mit Fäusten gegen meine Brust schlagen, aber nichts Derartiges geschieht. Ich bin erleichtert. Sie leidet still. Langsam wird mir etwas unwohl und plötzlich fällt mir die Gratiszeitung ein, die unterbetrachtet in meiner Tasche liegt. Ich krame sie hervor und reiche sie meiner lesehungrigen Mitreisenden, die sie zögerlich nimmt. «Die lese ich ja normalerweise nicht… Würden Sie auch tauschen?» fragt sie, fügt aber, nach dem sie meinen leicht entnervten Blick bemerkt, beschwichtigend hinzu: «Wenn Sie fertig sind, wenn Sie fertig sind, natürlich! Sie lesen die Zeitung sehr gründlich, das ist ja heute auch nicht mehr selbstverständlich, bei so Jungen, das sollte man ja eigentlich unterstützen.»«OK», brumme ich und irgendwas von «ich bin im Fall 30, ey».
Gelitten oder gelittert?
Kurz vor Zürich beschliesse ich fertig zu sein, falte die Zeitung zusammen und lege sie auf den Zugtisch. «Ich habe ausgelesen», sage ich. «Sehr gut», meint mein Gegenüber. Ich packe meine Sachen zusammen, die Umsteigzeit in Zürich ist knapp bemessen, weswegen ich darauf bedacht bin, vor den desorientierten Ausflüglern auszusteigen. Auch meine Mitreisende richtet sich aufbruchsfertig, steht auf und verlässt das Abteil Richtung Treppe, die hart umkämpfte Lokalzeitung liegt einsam auf dem Zugtisch, die Gratiszeitung auf dem Sitz. «Sie haben die Zeitung vergessen!», rufe ich ihr zu. Und wedle gen verlassenes Abteil. «Das ist nicht meine Zeitung! Jetzt schieben Sie das nicht auf mich. Erst geizen, dann littern ‒ die hat man gern!» Ich tue so, als würde mich das alles nichts angehen und als der Zug hält, versuche ich mich zu beherrschen und weder nervös zu trippeln noch mit den Füssen zu scharren. «Die Leute denken, dass sie die Zeitungen überall liegen lassen können, irgendjemand räumt die ja schon weg. Das ist Zeitungslittering! Dabei gibt es da draussen EXTRA so Altzeitungskübel!», sie zeigt theatralisch nach draussen, wo der Zug langsam in den Bahnhof einfährt.
Karmabedingtes Altpapiersammeln.
Der Moment zwischen Halt und Türöffnung scheint mir heute besonders lang. «Erst geizen, dann littern, jaja, die hat man gerne!» Höre ich sie mir hinterher rufen, während ich in die nächste S-Bahn spurte und leichte Schuldanwandlungen verspüre. War das nun Littering? Um Himmelswillen, habe ich gelittert? Um mein Karma wieder zu besänftigen, sammle ich in der S-Bahn Gratiszeitungen und werfe sie in einer der «EXTRA-so-Altzeitungskübel». Dann finde ich eine alte Ausgabe des GEO Reisen, setze mich, will gerade die Kopfhörer aufziehen, als ich gefragt werde: «Entschuldigen Sie, brauchen Sie das Heft noch?»