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Das Litterding.


(Der folgende Artikel erschien als Blogpost im Blog der Schweizerischen Bundesbahnen.)

Minuten vor der Zugausfahrt besorge ich mir neben Kaffee und der gehaltvollen Pendlerzeitung auch noch die Ausgabe einer Lokalzeitung, mein Arbeitsweg dauert nämlich länger als 20 Minuten. Auf dem Perron stehe ich genau richtig, ich weiss wie Hasen laufen und Züge halten. Der Wagen hält so, dass die Türe sich exakt neben meinem rechten Fuss öffnet und ich schiele nach bewundernden Blicken für mein Ort- und Timing.

Ich finde eine Platz in einem der Zweierabteile mit Einzelsitzen, ohne dass meine Ellenbogen zum Einsatz kommen müssten, völlig leer vor. Meinen Kaffee stelle ich auf den Tisch, die Lokalzeitung lege ich daneben, die Gratiszeitung behalte ich vorerst in der Tasche, mehr so als Joker, falls ich zu einem der langen Artikel in der Lokalzeitung auch noch die Kurzvariante mit reisserischem Titel lesen möchte. Während ich meine Jacke ausziehe und dabei versuche, keine der durch die Gänge strömenden Mitreisenden zu verletzen, werde ich nach dem Besetzungsgrad des gegenüberliegenden Sitzes gefragt. Mit einladender Geste bedeute ich der Dame Platz zu nehmen, hänge meine Jacke auf und setze mich ebenfalls.

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Mit Zeitung und Kaffee im Zug.

«Brauchen sie die noch?»

Planungsfehler: Ich habe Zucker und Löffel in der Jackentasche vergessen und auch die Kopfhörer liegen noch sorgsam um den gesamten Tascheninhalt verknotet ausserhalb meiner direkten Reichweite. «Brauchen sie die noch?» Fragt meine Mitreisende und deutet auf die Lokalzeitung. »Ja, ich werde sie lesen, sobald ich den Kopfhörerkabel-Houdini gemacht und meinen Kaffee gesüsst habe», erwidere ich freundlich, während ich mich um das tascheninterne Chaos kümmere und hoffe, dass ich es schaffe, meine Kopfhörer zu befreien, bevor der Kaffee zu kalt ist. «Entschuldigen Sie, kann ich rasch etwas nachschauen, während sie die Zeitung noch nicht lesen?» Mein Gegenüber nimmt die schutzlos rumliegende Zeitung fast schon zur Hand, aber ich erkläre: «Ich bin gleich fertig und möchte dann gerne lesen, aber ich kann sie Ihnen gerne überlassen, sobald ich ausgelesen habe.» Kurz im Kaffee gerührt, Kopfhörer aufgesetzt, passende Musik gewählt, irgendwas Episches, passend zu Pendlerwerbung und Mörder-Drummer, versenke ich mich genussvoll in die Dramen der Welt, etwas Realität vor dem jobbedingten Heilpädagogenflausch.

Begehrtes Papier.

Gerade will ich vom Auslandteil zur Wirtschaft wechseln, ich lese gerne kreuz und quer, als meine Sitznachbarin winkend um meine Aufmerksamkeit bittet. Ich setzte die Kopfhörer ab und versuche fragend auszusehen. «Dürfte ich den Teil, den Sie jetzt gerade gelesen habe schon haben?» Sie fragt freundlich, das muss man ihr lassen, und blickt dabei so freudig erwartungsvoll wie mein Hund, wenn ich am Schrank mit dem Hundefutter vorbeilaufe. «Ich lese kreuz und quer, müssen Sie wissen. Das tue ich immer schon unchronologisch und ich würde das gerne auch heute tun.» Offensichtlich enttäuscht lehnt sie sich in ihren Sitz zurück, ein spontaner Tagtraum zeigt sie mir in Dreijährigenmanier mit Fäusten gegen meine Brust schlagen, aber nichts Derartiges geschieht. Ich bin erleichtert. Sie leidet still. Langsam wird mir etwas unwohl und plötzlich fällt mir die Gratiszeitung ein, die unterbetrachtet in meiner Tasche liegt. Ich krame sie hervor und reiche sie meiner lesehungrigen Mitreisenden, die sie zögerlich nimmt. «Die lese ich ja normalerweise nicht… Würden Sie auch tauschen?» fragt sie, fügt aber, nach dem sie meinen leicht entnervten Blick bemerkt, beschwichtigend hinzu: «Wenn Sie fertig sind, wenn Sie fertig sind, natürlich! Sie lesen die Zeitung sehr gründlich, das ist ja heute auch nicht mehr selbstverständlich, bei so Jungen, das sollte man ja eigentlich unterstützen.»«OK», brumme ich und irgendwas von «ich bin im Fall 30, ey».

Gelitten oder gelittert?

Kurz vor Zürich beschliesse ich fertig zu sein, falte die Zeitung zusammen und lege sie auf den Zugtisch. «Ich habe ausgelesen», sage ich. «Sehr gut», meint mein Gegenüber. Ich packe meine Sachen zusammen, die Umsteigzeit in Zürich ist knapp bemessen, weswegen ich darauf bedacht bin, vor den desorientierten Ausflüglern auszusteigen. Auch meine Mitreisende richtet sich aufbruchsfertig, steht auf und verlässt das Abteil Richtung Treppe, die hart umkämpfte Lokalzeitung liegt einsam auf dem Zugtisch, die Gratiszeitung auf dem Sitz. «Sie haben die Zeitung vergessen!», rufe ich ihr zu. Und wedle gen verlassenes Abteil. «Das ist nicht meine Zeitung! Jetzt schieben Sie das nicht auf mich. Erst geizen, dann littern ‒ die hat man gern!» Ich tue so, als würde mich das alles nichts angehen und als der Zug hält, versuche ich mich zu beherrschen und weder nervös zu trippeln noch mit den Füssen zu scharren. «Die Leute denken, dass sie die Zeitungen überall liegen lassen können, irgendjemand räumt die ja schon weg. Das ist Zeitungslittering! Dabei gibt es da draussen EXTRA so Altzeitungskübel!», sie zeigt theatralisch nach draussen, wo der Zug langsam in den Bahnhof einfährt.

Karmabedingtes Altpapiersammeln.

Der Moment zwischen Halt und Türöffnung scheint mir heute besonders lang. «Erst geizen, dann littern, jaja, die hat man gerne!» Höre ich sie mir hinterher rufen, während ich in die nächste S-Bahn spurte und leichte Schuldanwandlungen verspüre. War das nun Littering? Um Himmelswillen, habe ich gelittert? Um mein Karma wieder zu besänftigen, sammle ich in der S-Bahn Gratiszeitungen und werfe sie in einer der «EXTRA-so-Altzeitungskübel». Dann finde ich eine alte Ausgabe des GEO Reisen, setze mich, will gerade die Kopfhörer aufziehen, als ich gefragt werde: «Entschuldigen Sie, brauchen Sie das Heft noch?»

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Kontaktbörse Zug.


Sie sind offen, gesprächsfreudig und nehmen jede soziale Interaktion dankbar an? Ich erkläre Ihnen heute in 10 Punkten, weshalb Sie öfters Zug fahren sollten und wie Sie garantiert und ohne grossen Aufwand schnell zu Kontakten mit Menschen kommen, die Sie sonst wohl nie getroffen hätten.

  1. Platzwahl I: Der Sitz.

Wenn Sie Ihren Sitzplatz mit Geschick wählen, müssen Sie vielleicht gar keine weiteren Schritte mehr unternehmen, weil es zwangsläufig zu Kontakten kommt. Ein Erfolgsgarant im Doppelstöcker ist beispielsweise die Sitzbank vis à vis der Sitzbankrondells, denn aufgrund des Beinplatzmangels kommen sie mit jedem Passant, spätestens mit Minibarführer und bekofferten Touristen, meist in Berührung und sicher in Verbalkontakt. Hinzu kommen fast garantierte Oberschenkelreibungspunkte, da die Sitze selbst für Durchschnittsgewichte eng bemessen sind und über keine Armlehnen verfügen, da reicht ein Zentimeter mehr Hüftumfang eines einzelnen Banksitzenden und alle rücken sich lauschig nah. Vermeiden Sie Einzelsitze und Zweierabteile, denn damit teilen Sie Ihre Kontaktchancen mal eben durch 4.

  1. Platzwahl II: Die Mitreisenden.

Auch mit der sorgfältigen Aufarbeitung dieses Punktes könnten Sie bereits die ganze Kontaktanbahnungsarbeit gleich zu Anfang erledigen. Sie werden erwartungsvoll angesehen? Hinsetzen! Sie werden überhaupt angesehen? Hinsetzen! Zögernde Griffe zur sitzbelegenden Tasche? Hinsetzen! Einsame Senioren? Hinsetzen! Mensch ohne Zeitung, Buch und Smartphone? Hinsetzen! Aber auch wenn Sie keinen Platz innerhalb der oben genannten Optimalsettings finden, gibt es keinen Grund zu verzweifeln, bisher haben Sie sich nur, relativ passiv, die beste Startposition gesucht, tatsächlich aber können Sie aus jeder Position gewinnen.

  1. Der aufmerksame Zuhörer I: Telefonkonversation.

So müssen Sie zum Beispiel im Abteil mit aktiven TelefonistInnen nicht kontaktleer ausgehen, nein, hören Sie aufmerksam zu, merken Sie sich das Besprochene: Versuchen Sie sich den ungehörten Teil der Konversation auszumalen, machen Sie sich wenn nötig Notizen und vor allem: Verpassen Sie Ihren Einsatz nicht! Ihr Einsatz liegt nämlich in den Netzlöchern. Die zu füllen ist Ihre Mission. Gehen Sie auf den letzten Gesprächsteil vor dem Verbindungsunterbruch ein. «Hallo!? … Hörst du mich? … ich verstehe dich nicht! … Hallo!?» Mögliche Antworten wären: «Hallo! … Ja! … Vielleicht lenkt Sie das Telefon zu sehr ab? … Hallo! … Wie geht’s?»

  1. Der aufmerksame Zuhörer II: Gruppenkonversation.

Auch wenn Sie, wohin das Auge reicht, nur geschwätzige Gruppen erblicken, muss Sie das nicht weiter beunruhigen, setzten sie sich mitten unter sie, hören Sie zu, versuchen sie das Gesprächsthema zu erfassen, die Erstellung eines kleinen Mindmaps kann dabei helfen, und ergreifen Sie zum richtigen Zeitpunkt das Wort. Sie werden sehen: Selbst zunächst konsternierte Reaktionen können sich, wenn die Aussagen entsprechend tiefgründig und treffend sind, in Wohlgefallen, vielleicht sogar Bewunderung auflösen. Falls Sie keine Ahnung vom Thema haben, stellen Sie einfach pointierte Fragen oder benutzen Ihr Smartphone für eine Kurzrecherche im Internet.

  1. Ungeschicktheit

Für einige unter Ihnen wird es kein Problem sein, etwas Ungeschicklichkeit an den Tag zu legen, für einige wird es gar schwierig sein, dies nicht zu tun, und für einmal sind Sie damit gut bedient, denn Ungeschicklichkeit baut Brücken. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Missgeschicke insgeheim absichtlich geschehen oder die Neigung quasi angeboren ist, solange das Gegenüber die Intention nicht bemerkt. Natürlich müssen Sie darauf achten, dass Ihr Ungeschick bemerkt wird, oder die Mitreisenden gar involviert werden, mit einsamem Stolpern im Zugeingang ist niemandem geholfen. Am zuverlässigsten funktionieren die bewährten Klassiker, die ich Ihnen in der folgenden Liste zusammengestellt habe:

  • Dinge fallen lassen und entweder «nicht bemerken» oder erst bemerken, wenn sich das Gegenüber bückt, dann ebenfalls bücken. Die zweite Variante sollte nur von Personen mit ausreichender Möglichkeit zu Bewegungskontrolle und Kraftdosierung durchgeführt werden, denn unkontrollierte Kopfkollisionen gilt es trotz immenser Kontaktfreude zu verhindern.
  • Auch Kurven, Holperer und andere Turbulenzen auf der Zugfahrt lassen sich gut nützen, Stolpern leichtgemacht, quasi. Stolpern sie sich in Kontakt! Mit etwas Theatralik und Schmerzensschreien werden sie sogar noch bemitleidet, auch wenn sie ungefragt grosszügig verteilt auf zwei Fremdschossen liegen.
  • Schliesslich gibt es da noch die Varianten, bei denen Sie eine Handlung suchen, deren Durchführung das Ansprechen des Gegenübers erfordern würde, was Sie aber leider nicht bemerken. Pendlerehrensache, dass sie dabei niemandem Schmerzen zufügen. Beispiele: Lehnt die Mitfahrerin seinen Kopf ans Fenster, müssen Sie zwingend das Rollo hoch- oder runterziehen. Ragt das Bein des Fahrtgenossen etwas über die Trennlinie zwischen den Sitzen, müssen sie dringend die Armlehne runterklappen. Ist sie bereits runtergeklappt und ihr Sitznachbar hat seinen Ellenbogen darauf, muss die Lehne dringend hochgeklappt werden. Hat ihr Vis-à-vis lange Beine, müssen Sie zwingend den Abfalleimer öffnen und wenn Ihr Gegenüber sein Buch zugtischmittig plaziert hat, müssen sie diesen zwingend aufklappen. Alles selbstredend mit ausschweifenden Entschuldigungen und verlockenden Wiedergutmachungsangeboten unterlegt.
  1. Lebensgeschichte

Erzählen Sie ihre Lebensgeschichte und legen Sie dabei den Fokus auf besonders dramatische Ereignisse, denn auch wenn es Ihrem Gegenüber unangenehm werden sollte, bedarf es doch einer grossen Dosis Abgebrühtheit, um nicht auf derartige Erzählungen zu reagieren.

  1. Interessensprofil erstellen und entsprechende Pfortenöffnungsfragen platzieren.

Manchmal sieht man den Mitreisenden schon von Weitem an, wo ihre Interessen liegen könnten. In dem Falle gilt es, DIE eine Schleusenöffnungsfrage zu stellen, die unweigerlich zu einem Monolgoausbruch und damit zig Anknüpfungspunkten führt. Einige Beispiele:

  • Frühzwanziger in Unterleibchen: «Wie oft machst du Krafttraining?» (Es spielt dabei keine Rolle, ob tatsächlich auch nur Ansatzweise Muskeln zu sehen sind.)
  • Senioren in Wanderuniform: «Welche Wanderwege können Sie mir empfehlen?»
  • Bereisegepäckte: «Wohin reisen Sie? »
  • Kinder: «Ich habe soeben gepupst. »
  • Frischeltern: „Hat es schon die ersten Zähnchen? »
  • Mutmasslich mittleverdienender Pendler: «Die GA-Preise steigen. » 
  1. Buch erzählen.

Sollten Sie eine/n Mireisende/n sehen, die/der ein Buch liest, das Sie kennen, dann ergreifen Sie die Chance zu einer Buchbesprechung. Und haben Sie keine Angst vorzugreifen, die Annahme, dass sowas unerwünscht sei, ist falsch. Man wird Ihnen danken, dass das Buch nun nicht mehr gelesen werden muss.

Was auch immer sie gerade essen, lesen, hören oder sehen, bieten Sie Ihrem Gegenüber davon an, teilen Sie! Stösst Ihr Angebot auf Ablehnung, bieten Sie es lieber zwei weitere Male an, halten Sie sich die Gepflogenheiten anderer Länder (z.B. Türkei: 3x ablehnen, erst dann annehmen) im Hinterkopf, Sie wissen nicht, woher ihr Gegenüber stammt.

Hilfsbereitschaft ist eine gerngesehene Eigenschaft, eine Handlungskonnotation, die es zu nutzen gilt. Ihr/em Gegenüber…

… fällt etwas runter: Heben Sie es sorgfältig auf, säubern Sie es mit Spitzentaschentuch und reichen überreichen sie es mit ausladender Geste zurück.

… niest, hustet oder zieht die Nase hoch: Reichen Sie ein Taschentuch und fragen Sie besorgt nach Gesundheitszustand und letzter Krankheit, erfühlen Sie Stirntemperatur und reichen Sie bei Bedarf ein Thermometer.

… hat ein Kopfhörerknotenwirrwarr: Lösen Sie es.

… findet bei Kontrolle das Billet oder Abonnement nicht gleich: Helfen Sie suchen. Überall.

… findet irgendwas anderes nicht mehr: Hier können Sie bei Bedarf, in einem unbeobachteten Moment, auch nachhelfen, den Gegenstand verschwinden lassen, ihn ausgiebig suchen und schliesslich heldenhaft wiederfinden.

usw.

 

 

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Sitzakrobatik und Atemübungen


(Der folgende Artikel erschien als Blogpost im Blog der Schweizerischen Bundesbahnen.)

Glück gehabt, ich habe ein Viererabteil für mich, in einigen Sekunden fährt der Zug ab, die Gefahr beengten Reisens scheint für heute vorerst gebannt. Ich breite mich also ungehindert aus und stelle zufrieden fest, dass auch von den umgebenden Abteilen keine erhebliche Lärm- oder olfaktorische Belästigung droht, hier ein Anzugträger mit Klappcomputer, da ein älteres Pärchen auf Wanderfahrt, alles entspannt, alles gut.

Ich stelle meinen Kaffee aufs Zugtischchen, obwohl ich gefühlt erst einen Tropfen getrunken habe, ist er schon kalt und beinah leer, altbekannte Geschichte, aber das inkorporierte Koffein sollte für ausreichende Gewaltprävention bis zur nächsten Kaffeemaschine reichen, alles entspannt, also, alles gut. Der Zug setzt sich in Bewegung, nein, von hier aus stört es mich kaum, dass es nach Tagen frühlingshafter Wärme wieder schneit, dafür suche ich nach der angemessenenmusikalischen Begleitung, erhöhe die Lautstärke und lese in der Zeitung irgendwas von Ohrfeigen und Hanf, als am linken Oberarm ein Pieksen spüre, reflexartig zücke ich das GA und halte es dem Piekser unter die Nase.

Das Muskelbubi.
Vor mir steht aber kein Kondukteur, sondern eine der bemitleidenswerten Kreaturen, die trotz erneuten Kälteeinbruchs im Unterhemd rumrennen müssen, weil sie das Präsentieren ihrer postpubertären Müskelchen während den ersten warmen Tagen derart in Euphorie versetzte, dass sie nun einfach nicht mehr damit aufhören können. Ich gewähre ihm selbstredend den Platz und kann mich gerade noch so zurückhalten, ihm auch noch meine Jacke anzubieten. Er setzt sich und ich suche wieder die Versenkung in Musik und Zeitung. Vergeblich, denn der Beunterhemdete setzt sich stocksteif, starren Blickes in meine Richtung vor mich und beginnt mit Atemübungen. Die machen zumindest keinen Lärm, denke ich, und verstecke mich etwas besser hinter der Zeitung.

Allzu atmungsaktiv.
Tatsächlich kann ich mich über die Lautstärke nicht beklagen, allerdings habe ich auch nicht damit gerechnet, dass mein Gegenüber seine Atemübungen mit derartiger Intensität zelebriert, dass meine Zeitung flattert, was wiederum das Lesen erschwert. Ich versuche ihm zwischen den Ausatmungsphasen genervte Blicke zuzuwerfen, aber er atmet geschlossenen Auges, konzentriert weiter und ich sehe mich gezwungen diesmal selber, möglichst direkte Atemböen vermeidend, pieksend aktiv zu werden. Er unterbricht sein Tun und schaut mich fragend an. «Würde es dich stören, in eine etwas andere Richtung zu atmen?», frage ich und mir wird im selben Moment klar, wie seltsam diese Frage klingt. Er, gänzlich unbeeindruckt, dreht sich, beide Füsse noch immer in gerader Position am Boden, in unnatürlicher Drehung zu Schreibe und atmet weiter. Die Scheibe beschlägt in regelmässigen Abständen, ich versuche mich erneut auf die Zeitung zu konzentrieren, dankbar, sie überhaupt dabei zu haben, denn ohne sie hätte vorhin an ihrer Stelle mein Haar im Atemwind geweht und ich vermag kaum Unangenehmeres auszumachen.

Turnübung kurz vor Zürich.
Ganz kann ich meinen Blick, trotz angestrengtem Konzentrationsversuchs, nicht von meinem Mitreisenden lösen, denn mittlerweile atmet er zwar nicht mehr, also nicht mehr ganz so betont, sondern hat seinen Oberkörper noch weiter nach rechts gedreht. Während seine Füsse nach wie vor in gerader Position am Boden verweilen, weist sein Gesicht unterdessen gen Sitzpolster, sein ausgestreckter rechter Arm dient, in Anlehnung an den Sitz links neben ihm, als Keil, um ihn in dieser Position zu halten.  Ein halbes Lied und ein Zeitungsabschnitt, ohne inhaltliches Verständnis, lang herrscht relative Ruhe, dann löst mein Vis-à-Vis im Unterhemd sich aus seiner Position und dreht sich in die exakt selbe Position, aber auf die andere Seite. Weitere fünf Minuten vergehen, ehe er sich erneut zurück, in eine etwas natürlichere Haltung dreht und damit beginnt, seine Schuhe auszuziehen. Ich bereite mich innerlich auf potentielle Geruchsintensitäten vor und filtere die Luft der folgenden Atemzüge vorsichtshalber gezielt und unauffällig mit meinem frisch gewaschenen Schal. Mein Gegenüber, nunmehr in Unterhemd, Trainerhose und Socken, kniet sich, Rücken zu mir, auf die Sitzbank, legt sein kluges Telefon auf die Kopfstütze uns spielt, rutschbedingt ziemlich erfolglos, Candy Crush.

Atmunksaktiv

Abteil mit Aussicht.
Unschöner Nebeneffekt: Jede handysche Rutschpartie hat Unterhemdträgers Bücken und einen ungewünschten Blick auf seinen Rücken, samt Pobackenlücke zur Folge. Erneut tut meine Zeitung einen sehr willkommenen Dienst als Sichtschutz. «Nächster Halt Zürich, guten Mor…, äh guten Morgen miteinander!», auch der Kondukteur zeigt sich leicht irritiert ob Gegenübers Sitzdarbietung. Ich zeige mein GA und auch der Sitzakrobat wedelt mit irgendeinem Ausweis. «Könnte ich noch Ihr Halbtax-Abo sehen? Und weswegen knien Sie verkehrt herum auf Ihrem Sitz?», der Kondukteur sieht auch mich fragend an. Ich zucke mit den Schultern, zutiefst dankbar, dass ich die Frage nicht selber stellen musste. Mein beunterhemdetets Vis-à-Vis, nach wie vor kniend auf der Sitzbank, zückt auch noch das Halbtax und hält es in die Runde. «Mir wird schlecht, wenn ich vorwärts fahre.» Der Kondukteur wirft mir einen fragenden, bis vorwurfsvollen Blick zu. Ich finde mich für einen Moment wortlos wieder. «Äh… Das wusste ich nicht… Möchten Sie Platz tauschen?», frage ich und beginne meine Sachen zusammen zu packen. Das Unterhemd dreht sich für einen Moment um, um abzuwinken: «Nein Danke, es geht so ganz gut.» Und dreht sich wieder zurück. Ich beende die Fahrt zwischen Erstaunen, schlechtem Gewissen und angestrengtem Nichthinsehen.

 

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Die 10 Pendlertypen – ein Hilfsmittel zur Früherkennung und Pendlergewaltprävention (17.Dezember)


Seit unserer Reise pendle ich wieder wöchentlich mehrmals zum Arbeitsort und zurück. Von Haustür zu Haustür brauche ich, wenn alle Anschlüsse gegeben sind, 1 ½  Stunden, ich bin also mindestens drei Stunden arbeitstäglich in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Trotzdem ist es eine allarbeitsmorgentliche Herausforderung, einen Platz zu ergattern, der mich meine Pendlermörgen und -abenden tatsächlich so verbringen lässt, wie ich mir das wünsche, nämlich ruhig und ungestört. Andernorts  habe ich schon diverse Strategen aufgelistet, hier und heute möchte ich auf die diversen Pendlertypen, und wie sich ihre Anwesenheit auf mein pendelndes Wohlbefinden auswirkt, eingehen, auf dass es künftige Pendelanfänger dereinst leichter haben und mit diesem Hintergrundwissen Pendelstörungspräventionsmassnahmen ergreifen können.

Die Schläfer

Kurzbeschrieb: Sie betreten das Abteil, setzen sich, nesteln sich ein und befinden sich Sekundenbruchteile nach Abfahrt im Tiefschlaf.
Positivpotential: Sie schlafen und werden Sie deshalb nicht in ein Gespräch verwickeln.
Negativpotential: Es besteht die Gefahr, dass die Schläfer schnarchen, sabbern oder unabsichtlich und -bemerkt seitwärts kippen. Letzteres liesse sich durch ein Ausweichmanöver verhindern, hätte aber Verletzungen oder mindestens die Fremdbelegung des eigenen Sitzplatzes zur Folge. Desweiteren neigen gerade die Schläfer dazu, sich kurz vor Ankunft beim Zielbahnhof mit besonders fiesen Mobiltelefonklängen wecken zu lassen. Babylachen, beispielsweise, oder Möwenkreischen.
 

Die Fleissigen

Kurzbeschrieb: Sie tragen Anzug oder Deuxpiece und arbeiten die ganze Fahrt über an ihrem Laptop, blicken ab und zu genervt auf, beispielsweise wenn Sie atmen, um hernach wieder mit wichtiger Miene in die Tasten zu hauen.
Positivpotential: Auch sie würden Sie niemals in ein Gespräch verwickeln.
Negativpotential: Die Fleissigen haben einen Hang zu exzessivem Parfüm- und Aftershaveeinsatz, was das Atmen erheblich erschwert, was wahrscheinlich wiederum der Grund für die genervten Blicke darstellt. Ein wahrer Teufelskreis.
 

Die vermeintlich Fleissigen

Kurzbeschrieb: Sie sehen auf den ersten Blick aus wie die Fleissigen, benutzen den Laptop aber nicht um zu arbeiten, sondern gucken Podcasts oder spielen Solitär.
Positivpotential: Auch sie nehmen Kaum Kontakt auf, es erfolgen, im Gegensatz zu den Fleissigen, auch keine bösen Blicke, dafür sind sie zu absorbiert.
Negativpotential: Auch hier stelle ich vermehrt auffällig exzessiven Gebrauch von künstlichen Duftstoffen fest. Zusätzlich erfolgen ab und zu kleinere Lärmbelästigungen, wenn die Podcasts lustig, oder die Solitärspiele verloren werden.
 

Die Leser

Kurzbeschrieb: Sie lesen Zeitungen, Bücher und Magazine.
Positivpotential: Sie sind meist zu beschäftigt um ein Gespräch anzufangen.
Negativpotential: Zeitungsfrischlinge sind ab und zu relativ unkoordiniert beim Lesen auf engem Raum, es besteht die Gefahr von Seitenhieben. Beachten Sie, wieviel Stoff die Lesenden noch haben und ob für Nachschub gesorgt ist, die aufkommende Leere nach dem Auslesen eines Buches kann spontan zu massiver Steigerung der Gesprächsbereitschaft führen.
 

Die Esser

Kurzbeschrieb: Sie essen immer. Immer.
Positivpotential: Die Wohlerzogenen dieser Gattung werden aufgrund vollen Mundes nicht mit Ihnen sprechen.
Negativpotential: Die Schlechterzogenen werden Sie vollem Mund auf die drei Minuten Verspätung hinweisen, dabei kleinstpartikelgrosse Stücke ihres mit Spucke angereicherten Käsebrotes auf Ihnen verteilen, schmatzen und den Frass mit grosser Wahrscheinlichkeit mit geruchsintensiven Energydrinks runterspühlen.
 

Das Rudel

Kurzbeschrieb: Sie kommen zu Mehren
Positivpotential: Sehr wahrscheinlich werden Sie nicht ins Gespräch einbezogen. Mit etwas Glück ist das Gespräch so skurril, dass Sie darüber bloggen können.
Negativpotential: Das Rudel ist laut, ausdauernd und niemals ohne Gesprächsthemen.
 

Die Verreisenden

Kurzbeschrieb: Sie befinden sich auf dem Weg gen Urlaub und führen diverse Gepäckstücke mit sich.
Positivpotential: Sie lassen Sie in Reiseerinnerungen schwelgen. Sie werden aufgrund von Reisekrankheitsbefürchtungen und dem damit Verbundenen Auswurf von Mageninhalt nichts essen. Vielleicht. Wenn sie Glück haben stapeln sie ihr Gepäck rund um Sie, die perfekte Schutzmauer.
Negativpotential: Sie erzählen mit sich vor Aufregung überschlagender Stimme von ihrem Reiseziel, wuchten die Gepäckstücke eine halbe Stunde vor Ankunft in die Gänge, aus Angst sie könnten den Ausstieg verpassen, und fragen Sie mindestens sechs Mal, ob sie wirklich im richtigen Zug sitzen.
 

Die verdächtig Unterbeschäftigten

Kurzbeschrieb: Personen im Rentenalter, tragen oft Wanderschuhe und Windjacken.
Positivpotential: Sie nehmen Ihnen nicht die raren Stromzugänge im Zug weg.
Negativpotential: Sie sind äusserst mitteilungsbedürftig, hartnäckig und gnadenlos, Gesprächsverweigerung ist zwecklos auf demonstratives Lesen oder Kopfhöreraufsetzen wird allerhöchstens mit massivem anheben der Lautstärke reagiert.
 

Die Telefonisten

Kurzbeschrieb: Sie telefonieren.
Positivpotential: Telefonnetzlöcher retten Leben, Akkus haben ein Ende.
Negativpotential: Telefonnetzlöcher werden stetig kleiner, Akkus stetig langlebiger.
 

Die Musikhörer

Kurzbeschrieb: Dauerkopfhörerträger, mutmasslich hat bereits ein Verwachen mit dem Innenohr stattgefunden.
Positivpotential: Sie reden nicht, erst recht nicht mit Ihnen.
Negativpotential: Sie müssen unter Umständen die ganze Zugfahrt über Baschi mithören. 

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