Spinatwürfellutschen


Ich mag es, früh am Arbeitsort zu sein, wenn alles noch ruhig ist und ich, bis auf einen ebenfalls stets frühen Kollegen, alleine bin und Zeit genug zu haben, meine ganzen rituös gestalteten Vorbereitungen durchzuführen. Momentan gehören dazu folgende Punkte:

  1. Meine sämtlichen Schränke aufschliessen
  2. Abfalleimer mit Abfallsack bestücken
  3. Arbeitsmails abrufen, gegebenenfalls beantworten
  4. Mineralwasser aus der Vorratskammer holen
  5. Alle Wichtigkeiten bereitlegen: Schlüssel, Gehörschutz, Timer und Sterilium
  6. Hinsetzen, Therapiestunden bei einem Glas Wasser nochmal durchgehen, gegebenenfalls Arbeitspläne für Schüler*innen schreiben
  7. Potentielle Begegnungen und Konversationen planen
  8. Benötigtes Material, 1-Aktivität-pro-Kisten-weise bereitlegen
  9. 10 Minuten lang etwas Entspannendes am Smartphone tätigen (gerade ist das Türkischlernen)
  10. Auf Rundgang durch die Klassen Gewissheit holen, dass alle Therapiestunden wie geplant stattfinden und benötigte Materialien von niemand anderem gebraucht werden
  11. Restlich Zeit bis Schüler*innenankunft erneut Entspannung beim Türkischlernen

Kann ich all diese 11 Punkte zu meiner Zufriedenheit erledigen, stehen die Zeichen gut, dass ich verhältnismässig entspannt in den Tag starten kann. Jedenfalls bis zur ersten Krankenvertretung oder Schüler*innenkrankheitsmeldungen oder kaputte Sonnenmarkisen, die die Stunden von 13-15 Uhr zu einem relativ gleissend ermüdendem Ereignis machen, oder einem fehlenden Arbeitsgerät, das ungefragt abtransportiert wurde oder unangekündigten Hospitationsbesuchen. (Nicht bei mir, glücklicherweise, so weit sind meine Arbeitgeberinnen und Kolleg*innen meiner Voraussetzungen bewusst.) So weit so alltäglich.

Nun begab es sich aber, dass vor einigen Wochen meine Energiereserven schon bei Punkt 4 den käuflichen Desinfektionsmittelbeständen zu Coronazeiten glichen. Ich startete relativ unbedarft in den Tag, die Tagesstartriten zuhause konnte ich alle zu meiner vollsten Zufriedenheit ausführen, das Fahrrad benahm sich artgerecht, die Ampeln waren mit gnädiggrün gestimmt, kein*e Autofahrer*in schien es ernsthaft auf mein klägliches Abserbeln bedacht zu haben und, Sie werden mein Glück kaum fassen können, mein Lieblingsschlagloch lag als perfektpegelige Pfütze da uns spiegelte Sonnenaufgang und Plattenbauten. Randvoll mit Flauschhormonen erreichte ich also meinen Arbeitsplatz, nichtsahnend, dass mein Glück alsbald ein jähes Ende nehmen sollte. Ich war wirklich früh, Grünphase sei Dank, früher als mein stets ähnlich überfrühmotivierter Arbeitskollege. Innerlich frohlockend schloss ich also den Haupteingang auf, begab mich in mein Therapiezimmer und begann umgehend mit dem Abarbeiten obenstehender Vorbereitungspunkte. Ach, wie behände ich die Schränke aufschloss, wie anmutig meine Bewegungen beim Abfallsackschwingen! Einem grauschimmernden Drachengleich, schoss die Kunststofflichkeit durch die abgestandene Luft, passgenau in den formschönen Eimer. Sogar der Maileingang präsentierte sich augenweidern herrlich minimalistisch leer. Beschwingt trabte ich treppab in die noch dunkle Küche. Da ich den Lichtschalter nicht sofort fand, entschloss ich mich im Dunkeln in die Vorratskammer vorzutasten. Allzu schwer konnte das nicht sein, schliesslich kannte ich die Räumlichkeiten seit gut zwei Jahren und wie es sich für Küchen öffentlicher Institutionen gehört, stehen keine deplazierten Dinge lose und unerwartet im Raum rum. Beschwingt wie ich war, konnte mir die Dunkelheit wirklich nichts anhaben. Ich erreichte die Wasserkiste ohne weiteren Vorkommnisse und war gerade im Begriff zur Flasche zu greifen, als das Licht in der Küche anging. Dass ich das so in meinen Plänen nicht vorgesehen hatte, muss ich ja wohl nicht schreiben und wie immer, wenn Dinge passieren, mit denen ich gar nicht gerechnet habe, verfalle ich entweder in Starre oder fliehe. Fliehen war in dem Moment ausgeschlossen, denn bei der Vorratskammer handelt es sich um eine fensterlose Todesfalle, äh, Sackgasse und der einzige Weg raus führte durch die Küche, in der eine noch nicht identifizierte Person an der Kaffeemaschine tätig war. Ich hatte allerdings bei meinen Vorbereitungen gänzlich vernachlässigt, mich auf den Wortwechsel vorzubereiten, der auf eine derartige Situation folgen könnte. Schnell versuchte ich mir einige Gruss- und Geplänkeloptionen auszudenken, sowas wie „Hallo.“ und „Guten Morgen auch.“ und „Sorry, ich habe keine Geplänkelzeit, ich muss hoch und mich von deiner stressauslösenden Anwesenheit erholen.“. Gedankenordnungsbehindernd kam hinzu, dass ich mich fragte, ob mein Gegenüber mich vielleicht fragen würde, wieso ich hier im Dunkel rumwurstel und ob ein erwidertes „Faulheit.“ als das ausgelegt würde, was ich meinte, oder mein Gegenüber vielleicht regelmässig Faulheit mit Müdigkeit verwechselt und sich dann fragt, ob ich mich vielleicht regelmässig zum Schlafen in die Vorratskammer lege. Weiter würde der*die Unidentifizierte sich vielleicht zusammenreimen, dass ich die ganze Nacht hier verbracht habe, an Mineralwasserkisten gekuschelt, heimlich an gefrorenen Spinatwürfeln lutschend.  Der*die Unidentifizierte würde denken, ich sei obdachlos, würde mich mitfühlend umarmen, vielleicht eine kleine Spendenaktion starten. Regelmässsig würden mir selbstgemachte Aufläufe und Wollsocken ins Zimmer gelegt, man würde mir künftig mit extra viel Wärme, mitleidigem Blick und einfühlsamem Händeauflegen begegnen, Fegefeuer auf Erden, quasi. Nach mehreren multipel verstrickten Gedankengängen in den Abgründen pessimistischer Zukunfstmalereien wurde mir klar, dass ich mittlerweile das Zeitfenster überschritten hatte, in dem ich halbwegs würdevoll aus der Kammer hätte schreiten können und ich entschloss mich, einfach zu warten, bis der*die Unidentifizierte die Küche wieder verlässt. Ich wartete also im Dunkeln, exzessiv transpirierend und panisch, der*die Unidentifizierte könnte Mineralwasser- oder Spinatwürfelbedürfnisse hegen, in die Kammer treten und mich im einfallenden Strahl des Küchenlichts, stressbedingt wirres Zeug murmelnd, mit panischem Blick in der Ecke sitzend auffinden. Dann verliess der*die Unidentifizierte die Küche. Einfach so. So schnell und leise ich konnte begab ich mich zurück in mein Zimmer. Es ist nicht passiert. Eigentlich.

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